Wenn die zeit über die ufer tritt.
Das Interview Susanne Stahr mit Vladimir Tarnopolski.

Published in: Münchener Biennale (Internationales Festival für neues Musiktheater), 1999
Susanne Stähr: Auf den ersten Blick sieht Ihre neueste Oper nach einer innerrussischen Angelegenheit aus: Viadimir Tarnopolski befaßt sich mit Anton Tschechow. War es Ihr Wunsch, Tschechowsche Motive musiktheatralisch zu verarbeiten?
Vladimir Tarnopolski: Nein, das Thema Tschechow hat noch Hans Werner Henze ins Gespräch gebracht. Es muß 1994 gewesen sein, daß er nach der Uraufführung eines meiner Orchesterwerke, die recht erfolgreich war, auf mich zukam und vorschlug, ich sollte doch einmal eine Oper nach Tschechow schreiben. Ich war zunächst etwas irritiert und dachte: Das ist kein Thema für mich, denn eigentliche liebe ich eher handlungsbetonte Vorlagen. Aber dann habe ich die Idee ein Jahr mit mir herumgetragen, hin- und hergewendet, bis ich einen Lösungsansatz fand: Ich wollte gerne ein und dieselbe Geschichte dreimal durchspielen, immer in einer anderen Sprache, einem anderen Raum und einer anderen Zeit. Den ersten Akt wollte ich auf russisch komponieren, und er sollte entsprechend zu Tschechows Zeit in Rußland spielen; den zweiten, in unserer Gegenwart angesiedelt, hatte ich auf französisch und für Frankreich geplant, den dritten und futuristischsten dann Deutschland zugedacht. Das hätte mir die Chance geboten, drei völlig verschiedene atmosphärische Schichten zu kombinieren: für Rußland die rückwärtsgewandte Nostalgie, für Frankreich die Kunstsinnigkeit, für Deutschland die Bipolarität zwischen philosophischem Denken und blinder Technikgläubigkeit. Nach vielen Diskussionen mit Ralph Günther Mohnnau, Peter Ruzicka und Klaus Schuitz vom Gärtnerplatztheater sind wir dann doch übereingekommen, daß das gesamte Libretto in deutscher Sprache gehalten sein müsse. Und statt der drei Länder gibt es nun die Kurve vom Provinziellen der russischen Kleinstadt im ersten Akt über das Metropolitane im zweiten Akt, der in New York, London, Berlin oder Paris spielt, zum Globalen im dritten — irgendwo auf der Erde. Die musikalische Charakteristik der drei Aufzüge ist aber identisch geblieben. Und mit Tschechow hat das Ganze nur noch bedingt zu tun.
S.S.: Es sind die "Drei Schwestern" Olga, Mascha und Irina, die Sie aus dem Jahr 1899 in eine imaginäre Zukunft führen. Warum gerade dieses Drama?
V.T.: Die Strukturen und Motive, die Tschechow zum Einsatz bringt, sind in eigentlich allen seinen Dramen die gleichen. Es war also fast einerlei, welches Stück ich als Folie für mein Experiment wählen würde. Tschechow — das ist für mich in erster Linie absurdes, existentialistisches Theater: Wir sind auf einer unermüdlichen Suche nach dem Glück, ohne die geringste Chance zu haben, es zu finden. Andererseits geht es um ganz zentrale Fragen: Was ist der Sinn des Lebens? Wie können wir unsere Zukunft gestalten? Wie werden die nachfolgenden Generationen sein?
Sinnstiftend für meine Oper ist die Zahl drei: nicht nur, weil es sich um drei Schwestern dreht, die übrigens immer gemeinsam, als Dreieinigkeit, auftreten. Dazu haben wir den Dreiklang aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, jeweils einem der drei Akte und damit auch einem der drei Lebensräume zugeordnet. Und auf der Bühne spielt ein Streichtrio, wobei jedes der Instrumente einer der Schwestern entspricht: Olga das Cello, Mascha die Bratsche und Irina die Geige. Natürlich ist das nur die grundsätzliche Einteilung und keine strikte Regel — es gibt auch Abweichungen.
S.S.: Ein russischer Komponist, der für ein deutsches Musiktheaterfestival mit einem deutschen Librettisten arbeitet: Was bedeutet für Sie diese Konstellation?
V.T.: Die deutsche und die russische ästhetik sind grundverschieden. Dieses Spannungsfeld ist aber nicht nur bei dieser Oper von Bedeutung, sondern für mein gesamtes Schaffen ein zentrales: Meine Ausbildung, meine musikalische Sozialisation ist ganz stark von der deutschen Tradition geprägt. Denn unser Musikleben in Rußland wie auch die Lehrmethodik an unseren Konservatorien, gerade in den Fächern Musiktheorie und Formenlehre, wird heute ausschließlich von der deutschen Schule dominiert — während man bei Ihnen in Deutschland, so paradox es klingt, eine Internationalisierung der Standards anstrebt. Ich habe im vergangenen Jahr mehrere Monate in der Nähe von München verbracht, um an meiner Oper zu komponieren: Das ist schon ein unglaubliches kulturelles Angebot, was es hier gibt, nicht nur die Fülle der Konzerte und Opernaufführungen, auch die Radioprogramme, Fernsehkanäle wie 3sat und Arte. Und trotzdem habe ich das Gefühl, daß sich die Kultur bei Ihnen vom Menschen entfernt, daß sie nicht mehr unmittelbares und ursprüngliches Zeugnis eines gesellschaftlichen Bedürfnisses ist, sondern etwas Synthetisches, Standardisiertes, eine Ware. Die Deutschen von heute versuchen ihr Gestern vergessen zu machen — nicht nur die historische Schande, sondern auch das, worauf sie eigentlich aufbauen könnten: die maßstäblichen Werte ihrer Kulturgeschichte. Oft habe ich den Eindruck, daß russische Intellektuelle inzwischen die Meisterwerke der deutschen Literatur besser kennen als ihre deutschen Kollegen. Statt dessen greift in Deutschland eine Fortschrittsgläubigkeit Raum, eine Musterschülerhaltung gegen über den Maximen der Technisierung und Globalisierung, durch die man möglicherweise hofft, die einstige Vorreiterrolle der Nation der Dichter und Denker in ande-rer, aktualisierter Form aufrechterhalten zu können.

Bei uns Russen ist das anders. Zwar haben wir eine ähnliche Ausgangssituation: Auch wir müssen mit den Folgen einer schrecklichen Diktatur leben. Aber trotzdem ist der typisch russische Blick nicht der nach vorne, sondern der zurück, in die Vergangenheit. Wir definieren uns durch unsere Tradition, und die Nostalgie verspricht uns Genuß. Diese Haltung ist nicht weniger problematisch, denn wir müssen Visionen entwerfen, Mut zum Neuen haben, um die Zukunft zu meistern. Was ich mir also wünschen würde, wäre eine Symbiose der russischen und der deutschen Position. Wenn sich jeder eine Scheibe vom ändern abschneiden würde, stünden beide besser da.
S.S.: Sie haben die Partitur von "Wie die Zeit über die Ufer tritt" erst unmittelbar vor Beginn der Münchener Biennale vollenden können. Es heißt, die extreme Belastung, unter der Sie als Professor am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium stehen, habe Ihnen kaum Luft für die Ausarbeitung gelassen...
V.T.: Ich muß sehr viel Zeit und Kraft in meinen Job geben — aber meine Motivation ist dabei vermutlich eine andere als bei deutschen Kollegen. Wer in Deutschland Kompositionsprofessor ist, kriegt genug Geld; was ich an monatlichem Gehalt bekomme, das würde, in D-Mark umgerechnet, nicht einmal für eine Taxifahrt vom Münchner Flughafen bis in die Innenstadt rei-chen. Die Gründe, warum ich soviel in meine pädagogische und gesellschaftliche Arbeit investiere, sind rein menschlicher und ideeller Natur. Ich habe mein Festival in Moskau, mein eigenes Ensemble "Studio für Neue Musik" und leite am Tschaikowsky-Konservatorium ein Zentrum für zeitgenössische Musik — und für all diese Aktivitäten muß ich auch noch das notwendige Geld über Sponsoren auftreiben. Aber der Einsatz lohnt: Vielleicht empfinde ich mehr Sinn und Erfüllung in meinem Leben als mancher Vertreter einer westlichen Nation, der meine Situation mitleidig belächelt. Glück hängt nicht vom Geld oder von materiellen Gütern ab: Zehn Kühlschränke könnten mich auch nicht zufriedener machen.
Natürlich hat man mir immer wieder angeboten, in den Westen zu übersiedeln — ich erhielt allein aus Deutschland zwei Offerten. Aber die konkrete Perspektive hat mich nicht wirklich interessiert, ich zog es vor zu bleiben: Ich gehöre nach Rußland. Das russische Klima bekommt mir und meiner Kreativität am besten, dort bin ich verwurzelt, nur dort kann ich mich zu hundert Prozent verwirklichen. Und ich bin in der glücklichen Lage, daß ich genügend Kompositionsaufträge aus dem Westen erhalte, daß ich mir den Luxus einer niedrigen Bezahlung am Moskauer Konservatorium also leisten kann.
S.S.: Die Spannung zwischen russischer und deutscher Ästhetik, zwischen Tradition und Moderne: Wie äußert sie sich in Ihrer Partitur? Welche musiksprachlichen Mittel wählen Sie?
V.T.: Ich verwende in einigen Abschnitten verschiedene Musiksprachen und Stile, aber das Ganze mündet nicht in einen bunten russischen Salat — hoffe ich jedenfalls. Mein Wunsch war immer, Grenzen zu überschreiten, nicht in E und U, Avantgarde oder Traditionalismus einzuteilen. Diese Trennungen empfinde ich als ebenso unnatürlich wie das strikte Expertenwesen. George Bernhard Shaw hat einmal gesagt, ein Spezialist sei ein Mensch, der immer mehr über immer weniger wisse. Zu dieser Gruppe möchte ich nicht gehören, denn in der letzten Konsequenz bedeutet dies, alles über nichts zu wissen. Deshalb habe ich versucht, universeller vorzugehen, die Symbiose zu suchen. Die Zeit des doktrinären Purismus ist vorüber, ich glaube, daß die Zukunft der Neuen Musik in einer immer freieren Handhabung der Mittel liegen muß. Wenn mir die Farben des Jazz angeraten erscheinen, dann bringe ich sie zum Einsatz, wenn Klangfelder eine Aussage, die ich anstrebe, stützen, dann nutze ich sie. Natürlich sollte sich jedes der angewandten Mittel in eine zugrundeliegende Struktur fügen, eine alles verbindende Werkidee muß schon vorhanden sein.
Im ersten Akt verwende ich zum Beispiel Zitate aus dem "Liebestraum" von Franz Liszt — denn es geht um den nostalgischen Zug des russischen Wesens, der die gute, alte Zeit als die Epoehe der Liebe und des Miteinander verklärt. Diese Zitate werden allerdings nicht plakativ exponiert, sondern fügen sich wie eine feine Anspielung in die musikalische Textur. Im zweiten Akt sind es dann Metaphern vor allem aus der U-Musik, die zur Zeichnung des Zeitatmosphäre unserer sehr viel prosaischeren Gegenwart dienen: ein bißchen Rock, aber auch Minimal Music. Der dritte Akt reduziert sich vorwiegend auf die perkus-sive Ebene der Beats als Sinnbild der maschinisierten, entmenschlichten Welt.
Die Vernetzung zwischen den Akten geschieht dadurch, daß ich bestimmte musikalische Figuren und Strukturen in abgewandelter Form jeweils wiederhole: Es gibt ein Trio der drei Schwestern, das in jedem Akt erklingt, nur jedesmal präpariert für eine andere Zeitschicht und musikalische Ästhetik, gewissermaßen geliftet. Glockenklänge in unterschiedlicher Transformation spielen in allen Szene eine wichtige Rolle; die Abfolge der Einsätze — zunächst singen immer die drei Frauen, danach erst treten in zwei weiteren Schritten die Männer jeweils paarweise hinzu — ist stets dieselbe. Und jeder Akt schließt mit der Deklamation eines lateinischen Wortes, das die Quintessenz bereithält: "amo", also "ich liebe", im ersten, "ars", "die Kunst", im zweiten, "mors", "der Tod", im dritten.
S.S.: Wie setzen Sie die menschliche Stimme ein, wie gehen Sie mit den Gesangspartien um?
V.T.: Die Stimme als menschlichstes Instrument, als Widerhall der Seele, spiegelt am deutlichsten die Veränderung der Lebenswelten. Im ersten Akt wird noch ganz normal und traditionell gesungen — Melodien, Bögen, Kantilenen. Im zweiten Akt dagegen ersetzt eine Uberbetonung der Konsonanten die vokale Linie, was einen sehr viel härteren und deklamatorischeren Charakter ergibt. Der letzte Teil schließlich kennt hauptsächlich Staccati: Die Wörter werden in ihre Silben gerissen, jede einzelne davon kurz angestoßen — "Heu-te ist Sonn-tag". Die Menschen sind leer, sie haben als Individuen nichts mehr zu verkünden, können einander nicht mehr zuhören. Die vokale Textur könnte man hier über weite Strecken mit einer Computerstimme vergleichen. Klangflächen und -felder entstehen nur noch im Vokalensemble, das ich als Metapher für die Menschenmaschine begreife. Hier gibt es in den einzelnen Stimmen gegenläufige weite Intervallsprünge, die sich über mehr als zwei Oktaven erstrecken können, was ein ganz verrücktes Klangbild zeugt.
S.S.: In diesem dritten Akt entwerfen Sie die Vision einer imaginären Zukunft, die doch recht erschreckend anmutet: Das Zeitalter des Individualismus ist vorüber, das Individuum ist in einer Menschenmaschine aufgegangen, die schließlich ihre eigene Vernichtung, den kollektiven Freitod, sucht ...
V.T.: Es sollte weniger eine Vision als eine denkbare Möglichkeit sein. Ich habe versucht, mich nicht als Prophet zu gerieren, sondern bescheiden zu bleiben, weshalb der dritte Akt auch der kürzeste ist, nichts in extenso ausspielt. Die Oper möchte in erster Linie eine Gefahr autweisen. Sie vollzieht mit den veränderten Zeitläuften eine Kurve der menschlichen Entfremdung: nicht nur der gegenseitigen Entfremdung untereinander oder der Anonymisierung, sondern auch der Entfremdung des einzelnen von sich selbst.
So sehr Sie das angesichts des dritten Aktes vielleicht erstaunen mag: Von Natur her bin ich eher ein Optimist. Und als solcher glaube ich auch, daß wir Künstler eine moralische Aufgabe zu erfüllen haben. Wir müssen für die Menschlichkeit in der heutigen Welt kämpfen, wir sollten gegen die allgemeine Kälte, gegen die Herzlosigkeit angehen. Mein Traum wäre, daß die zeitgenössische Kunst die Menschen wieder erreichen, sie sensi-bilisieren kann. Wir müssen Gefühle wecken, ein breites Publikum wieder unmittelbar berühren — und nicht elitaristisch unter uns bleiben.
S.S.: Das ist die gesellschaftliche Seite der Medaille. Aber wie würden Sie Ihr musikalisches Credo bezeichnen, was mochte der Komponist Viadimir Tarnopolski erreichen?
V.T.: Mir geht es darum, eine neue Form der Euphonie zu finden, also des schönen Klangs. Ich denke dabei an eine durchaus konsonante Musik mit sinnstiftenden Dissonanzen. Ich möchte nicht das komponieren, was ich von deutschen Komponisten leider so oft zu hören bekomme: nämlich ausschließlich Geräusche und entfremdete Klänge. Nicht daß ich mich generell gegen das Geräusch als musikalische Chiffre wende. Aber ich glaube, daß Geräusche nur eine Farbe auf der Palette eines Komponisten sein können, das Panorama ist doch sehr viel breiter. Ich möchte alles, was es gibt, unter der Prämisse einer werkspezifischen Idee benutzen dürfen. Nicht, daß Sie jetzt an Polystilistik denken — daran bin ich überhaupt nicht interessiert. Vielmehr bin ich davon überzeugt, daß sich die heterogensten Elemente sehr wohl unter einer homogenen Stilistik bündeln lassen. Das Ziel ist die Einheit des Mannigfaltigen.