Vladimir Tarnopolski
Eastanbul
für ein großes Ensemble

(2008)

Im Auftrag des Ensemble Modern und Siemens Arts Foundation

Kommentar des Autors

Mich hat diese große Stadt schon lange interessiert. Sie ist die einzige Megapolis, die auf zwei Kontinenten liegt, drei Namen hat und eine Vielzahl von Kulturen. Diese Stadt ist ein Mythos. Jeder sieht und hört hier etwas Eigenes.

Die Eindrücke von Istanbul bringen einen durch die riesige Auswahl für mögliche Gedankengänge in Versuchung. Ich hatte eine Menge Materialien gelesen und angesehen und bestimmte Ideen für meine Komposition mitgebracht. Das Streben dieser alten Stadt zum modernen Europa hin erschien mir höchst aktuell. Ich hatte sogar schon einen Namen für das Stück: ›Westanbul‹.

Aber die Erfahrung am Ort brachte mich jeden Tag mehr in Konflikt mit dieser Vorstellung. Meine distanzierten und auf fremde Urteile gestützten Überlegungen erwiesen sich als nicht tragfähig. Istanbul wurde für mich attraktiv, weil es der absolute, unbedingte Osten ist. Darin liegt unvergleichbarer Zauber.

Natürlich hat mich die fantastische landschaftliche Lage und die Konzentration von bedeutenden Kulturdenkmälern beeindruckt. Aber am meisten überraschte mich der Eindruck, dass diese Stadt eine kochende Lava aus allen möglichen Widersprüchen darstellt. Es ist eine Stadt von wahnsinniger Energie, die aber keinen bestimmten Vektor hat, weshalb sie sich nicht in eine Richtung fokussieren lässt. Durch diese Stadt scheinen alle Risse der Welt zu verlaufen, historische, soziale, ethnisch kulturelle. Sogar rein geografisch ist Istanbul an einer tiefen tektonischen Schnittstelle gelegen und lebt in Erwartung eines gewal-tigen geologischen Ausbruchs. Einige Häuser sind mit seismischen Senso-ren ausgestattet. Diesen Prozess der wechselseitigen physischen Durchdringung unterschiedlicher Kontinente, Meere, Kulturen könnte man als Diffusion betrachten. Ich empfand ihn als Zusammenstoß.

Im Vorgefühl kommender Erschütterungen, unter der Spannung einer sich ankündigenden Eskalation arbeitete ich an dem Stück. An einem bestimmten Punkt empfand ich es als notwendig, Material aus einem anderen Stück von mir, ›Kassandra‹, einzusetzen, wo genau solche Empfindungen wieder klangen. Möglicherweise hat die auch geografische Nähe von Troja mich zu dieser Assoziation gebracht.

Lange suchte ich den musikalischen Schlüssel zu meinem Stück, und wie so oft half mir der Zufall. Als ich einmal aus der Chora-Kirche mit ihren berühmten Mosaiken heraustrat, hörte ich den spätnachmittäglichen Gesang der Muezzine. Ihre Rufe ertönten von allen Seiten, wie von hunderten von Minaretten. Die Phrasen waren zeitlich nicht genau synchron und variierten etwas, wodurch sie scharf aufgesplittert wurden. Sie wiederholten sich endlos und überlagerten einander vielfach. Ich fühlte mich wie in einem rotierenden Klangtrichter inmitten eines riesigen hallenden Raums.

Diese Idee von einer Heterophonie als variierender Wiederholung ein und derselben Phrase wurde der Schlüssel zu meiner Komposition. Sie erlaubte mir, die unterschiedlichsten Eindrücke von dieser Stadt zu integrieren. Denn in der machtvollen Stimmenvielfalt ihres Lebens wird jeder Ansatz von etwas Individuellem augenblicklich nivelliert und in winzige Elemente eines gigantischen, allumfassenden Ornaments verwandelt. Das ›heterophone‹ Bild Istanbuls enthält zweifellos auch den Lärm der tausendköpfigen Menge auf der Istiklal-Straße und das Meer der Autohupen zur Hauptverkehrszeit auf dem Taksim-Platz. Es ist das Brodeln des Lebens in wimmelnder Vielheit.